Péter Szilágyi
Zum Verhältnis der Rechtstheorie und
Verfassungsgerichtsbarkeit in Ungarn
Für eine rechtsphilosophische
Konzeption, die das Recht als einen praktischen Vorgang auffaßt, ist die
Untersuchung des Verhältnisses zwischen Rechtstheorie und Recht besonders
wichtig. Die Gestaltung dieses Verhätnisses hängt vor allem von drei Faktoren
ab, die folgende sind: der Zustand der Gesellschaft, die Traditionen und die
organisatorischen Rahmen der juristischen Praxis. In den letzteren ist das
besonders bedeutend, ob es in der gegebenen Rechtsordnung eine
Verfassungsgerichtsbarkeit gibt, und sie welche Formen hat. Im Falle der
Judikatur der selbständigen Verfassungsgerichte ist die Feststellung von Ronald
Dworkin vornehmlich betreffend, daß die Rechtstheorie der allgemeine Teil der
Rechtssprechung, das unsichtbare Vorwort jeder juristischen Entscheidung sei.
Die hinter der Verfassungsgerichtsbarkeit vorfindbare und sich darin
darstellende Rechtstheorie beeinflusst nicht nur die Entscheidungen der
Verfassungsgericht selbst, sondern das Ganze der juristischen Praxis. Deshalb
ist eine nicht zu unterschätzende Aufgabe der Rechtstheorie von heutigen Tagen
die rechtstheoretische (und nicht nur verfassungsrechtliche) Analyse der im
Laufe der Verfassungsgerichtsbarkeit konzipierten Lehren und Doktrinen. Diese
rechtstheoretische Untersuchungen sind auch dann nützlich und lehrreich, wenn
die Urteile selbst ihre verfassungsrechtliche Aktualität schon verlieren haben.
Das ist auch deshalb notwendig, weil man von den Verfassungsgerichten mit Recht
erwarten kann, daß sie mindestens während einer relativen längeren Zeit
dengleichen dogmatischen Standpunkt, diegleiche herrschende Meinung vertreten.
Meiner Meinung nach auch diese relative Stabilität gehört zur
Rechtsstaatlichkeit. Zur Untersuchung dieser Stabilität ist die
rechtstheoretische Analyse unentbehrlich. Ich möchte dazu mit der Untersuchung
zweier Doktrinen der ungarischen Verfassungsgericht, der Lehren von „lebendigem
Recht” und von „verfassungsmäßiger Auslegung” beitragen.
Vor der Analyse der Urteile soll
ich einige Eigenarte der ungarischen Verfassungsgerichtsbarkeit darstellen.
Auch das ungarische Verfassungsgericht ist das Produkt des Systemwechsels, es
ist ein Verfassungsgericht aus der dritten Generation, und die Kompetenzen, die
dem Verfassungsgericht zustehen, sind meistens an die verschiedenen Formen der
Normenkontroll ausgerichtet. Dem ungarischen Recht fehlt es die echte
Verfassungsbeschwerde, weil das Gesetz dieses Verfahren an strenge Bedingungen
knüpft und nur ausnahmsweise läßt es die Möglichkeit zu, gerichtliche Urteile
zu überprüfen.
Georg Brunner charakterisiert
diese Lage folgenderweise:
„Die Ausgestaltung der
Verfassungsbeschwerde stellt wohl die am meisten mißlungene Regelung des VerfGG
dar. Sie kann von jedermann erhoben werden, der behauptet, durch die Anwendung
einer verfassungswidrigen Rechtsnorm in seinen verfassungsmäßigen Grundrechten
verletzt worden zu sein. Die Beschwerdeberechtigung ist offenbar nicht auf
natürliche Personen beschränkt, sondern steht auch nicht-rechtsfähigen
Personenvereinigungen und juristischen Personen zu, sofern sie grundrechtsfähig
sind. Weitere Zulässigkeitsvoraussetzungen neben der Beschwerdebefugnis sind
die Erschöpfung des Rechtswegs und die Einhaltung der Beschwerdefrist von 60
Tagen seit Zustellung der rechtskräftigen (oder bestandskräftigen)
Entscheidung. Die eigentliche Crux der Regelung besteht darin, daß Gegenstand
der Anfechtung und verfassungsgerichtlichen Prüfung nicht die den unmittelbaren
Grundrechtseingriff verkörpernde Einzelentscheidung, sondern die ihr zugrunde
liegende Rechtsnorm ist. Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, daß die
ungarische Verfassungsbeschwerde eigentlich gar keine echte
Verfassungsbeschwerde, sondern eine Variante der nachträglichen Normenkontrolle
sei, die eine Individualrechtsverletzung voraussetze.”[1]
Aus dieser Lage notwendigerweise
folgt das Problem, wie man die Verfassungsmäßigkeit der Rechtsanwendung und die
einheitliche Auslegung der Verfassung in jedem Bereich der juristischen Praxis
versichern kann. Das Verfassungsgericht versuchte dieses Problem zuerst mit
Hilfe der Lehre von „lebendigem Recht” zu lösen, dann mit der Doktrin von
verfassungsmäßiger Auslegung.
Der erste Hinweis auf das
„lebendige Recht” kommt in der Entscheidung Nr. 15/1991 (IV.13.), in der sog.
Personalnummer-Entscheidung vor, aber nur per tangentem:
„Das ungarische Recht
ermöglichte, daß sämtliche, sich aus der Natur der Personalnummer ergebenden,
Gefahren eintreten, als es die Verwendung der Personalnummer nicht regelte und
sie in einer rechtlichen Umgebung ohne Bedingungen einführte, in denen die
grundlegenden Garantien des Datenschutzes unbekannt waren. (Im Bereich dieser
Garantien wurde nur eine Teilfrage geregelt, nämlich das Einsichtsrecht des Betroffenen,
welches jedoch - aus seinen Zusammenhüngen herausgerissen - nie zu einem
lebendigen Recht wurde.)”[2]
Die Doktrin oder Lehre vom
lebendigen Recht wurde in der Entscheidung Nr. 57/1991. (XI.8.) ausgeführt. Die
wichtigste Feststellungen dieses Urteils sind die folgende:
„1. Das Verfassungsgericht mußte
zunächst in der Frage Stellung nehmen, nach welchen Gesichtspunkten und
Prinzipien es die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit durchzuführen hat, wenn der
Text einer Rechtsnorm mehrere mögliche Inhalte zuläßt.
1.1. Gemäß § 1 Bstb. g des
Gesetzes XXXII/ 1989 über das Verfassungsgericht (fortan: VerfGG) steht dem
Verfassungsgericht eine Auslegungskompetenz lediglich in bezug auf die
Bestimmungen der Verfassung zu. In Ermangelung einer eigenständigen
Gesetzesauslegungskompetenz kann sich die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit
nicht auf die Feststellung des möglichen unterschiedlichen Sinnes und Inhaltes
des Wortlauts einer Rechtsnorm an sich richten; vielmehr kann das
Verfassungsgericht dies nur in Verbindung mit der Prüfung einer seiner
Kompetenz zugewiesenen Frage vornehmen. Wenn die Gerichtspraxis und die
allgemein angenommene Rechtsauslegung den Wortlaut einer Rechtsnorm - sofern
unterschiedliche Inhalte möglich sind - einheitlich nur in einem bestimmten,
festgesetzten Sinn anwenden, muß das Verfassungsgericht den Wortlaut der
Rechtsnorm in diesem Sinn und mit diesem Inhalt unter dem Gesichtspunkt der
Verfassungsmäßigkeit prüfen. Wenn nämlich ein solcher in der Praxis zur Geltung
kommender Inhalt feststellbar ist, muß die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von
der Tatsache ausgehen, daß Inhalt und Sinn einer Rechtsnorm diejenigen sind,
welche ihnen die ständige und einheitliche Praxis der Rechtsanwendung
zuschreibt.
1.2. Die Verfassungsmäßigkeit
einer Rechtsnorm kann offensichtlich nur nach dem Sinn ihres Textes und dem
Inhalt der Norm beurteilt werden. Das Verfassungsgericht vergleicht also auch
bei der sogenannten abstrakten Normenkontrolle nicht bloß den »Buchstaben« der
Rechtsnorm, sondern auch ihren festgestellten Sinn und den Inhalt des Textes
mit dem gleichfalls von ihm ausgelegten und festgestellten Verfassungsinhalt.
Wenn eine zwei- oder mehrdeutige Rechtsnorm in der Rechtsanwendung nur einem
Sinn entsprechend lebt und sich ausschließlich mit diesem Inhalt verwirklicht,
muß das Verfassungsgericht die andere(n) Bedeutung(en) des Textes und den (die)
anderen Inhalt(e) der Norm nicht in den Kreis seiner Prüfung einbeziehen, da in
diesem Zusammenhang gar keine Verfassungsfrage auftaucht. Die Beurteilung der
Verfassungsmäßigkeit des »leblosen« Inhalts einer Rechtsnorm kann schon in
Ermangelung eines darauf gerichteten Antrags (§ 20 VerfGG) nicht Gegenstand
eines Verfahrens vor dem Verfassungsgericht sein.
Aus diesen Ausführungen folgt,
daß das Verfassungsgericht nicht den Wortlaut der Norm allein, sondern vielmehr
die zur Geltung gelangende und verwirklichte Norm, das heißt das »lebendige
Recht« mit dem Inhalt der Verfassungsbestimmungen und mit den
Verfassungsprinzipien vergleichen muß.
1.3. Nach Auffassung des
Verfassungsgerichts ist unter »lebendigem Recht« die Rechtsnorm mit ihrem
ausgelegten und angewandten Inhalt gemeinsam zu verstehen.
Im Sinne des VerfGG steht dem
Verfassungsgericht keine Kompetenz in bezug auf die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit
der Rechtsprechung der Gerichte zu. Dies bedeutet einerseits, daß das VerfGG -
im Fall, wenn die Rechtsnorm mehrdeutig ist und wenn sie in der Praxis auch
nicht auf eine einzige Weise ausgelegt wird - keine Entscheidung über die
Rechtsauslegung zwecks Ausgestaltung der einheitlichen Rechtsanwendung treffen
kann, denn es würde dadurch dem Obersten Gericht seine Kompetenz entziehen.
Andererseits bedeutet dies aber auch, daß in dem Fall, wenn bei mehreren
möglichen Bedeutungen einer Rechtsnorm diese sich in der Praxis der
Rechtsanwendung nur mit einem Inhalt verwirklicht, nur dieser Norminhalt für
die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit als Grundlage dienen kann. Im
entgegengesetzten Fall würde nämlich das Verfassungsgericht während seines
Verfahrens eine nicht in seine Kompetenz gehörende eigenständige Auslegung
einer Rechtsnorm durchführen und seine Kompetenz gerade dadurch überschreiten,
daß es dabei die Stichhaltigkeit der Auslegung der Rechtsnorm in der
Gerichtspraxis anzweifelt. Und wenn diese Auslegung der Rechtsnormen - wie dies
auch in bezug auf die durch die Anträge angefochtenen Rechtsnormen der Fall ist
- auf der richtungsweisenden Entscheidung des Obersten Gerichts basiert, würde
die Feststellung eines von der Auslegung des Obersten Gerichts abweichenden
Normeninhalts die Kompetenz des Obersten Gerichts verletzen.
Auch daraus folgt also, da die
Rechtsprechung in Ermangelung einer diesbezüglichen Kompetenz nicht den
Gegenstand eines Verfahrens vor dem Verfassungsgericht bilden kann, daß das
Verfassungsgericht den Wortlaut der Normen inhaltlich in dem Sinne prüfen muß,
den ihm die einheitliche Rechtsanwendungspraxis zuschreibt. Und wenn die
Rechtsnorm in der ständigen und einheitlichen Praxis unter mehreren möglichen
Bedeutungen - mit verfassungswidrigem Inhalt lebt und sich so verwirklicht, muß
im Verfahren vor dem Verfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit der
Rechtsnorm festgestellt werden.”[3]
Das Urteil ist mit 8:2 Stimmen
ergangen, wobei die dissentierenden Verfassungsrichter Géza Kilényi und Péter
Schmidt in ihren Sondervoten vorwarfen, daß das Verfassungsgericht seine
gesetzliche Kompetenzen überschritten habe. In seiner abweichenden Meinung, der
Schmidt angeschlossen ist, hat Kilényi eine gründliche Kritik der Lehre von
lebendigem Recht geleistet. Seine Argumente lauten, wie folgt:
„Die Substanz der in Teil »A« der
Entscheidung beurteilten prinzipiellen Frage besteht darin: Was kann das
Verfassungsgericht in einem Fall tun, wenn eine Rechtsnorm mehrere Auslegungen
zuläßt und die Praxis der Rechtsanwendung unter diesen eine Auslegung befolgt,
welche nach der Beurteilung des Verfassungsgerichts verfassungswidrig ist.
Diese Frage beantwortet die Entscheidung – auf der Grundlage der in der
Begründung ausgeführten Theorie des »lebendigen Rechts« – im folgenden Sinne:
In solchen Fällen sei der Spruchkörper nicht verpflichtet, aber auch nicht
berechtigt zu prüfen, ob die gerügte Bestimmung eine oder mehrere
verfassungsgemäße Auslegungen zuläßt oder nicht; vielmehr könne er, die Praxis
der Rechtsanwendung auf die Rechtsnorm zurückprojizierend, nur eines tun: Er
hebt die durch die Rechtsfindenden verfassungswidrig ausgelegte und angewandte
Bestimmung auf. Diese Logik ist für mich unannehmbar. Die Gesetzgebung ist eine
Sache, die Rechtsanwendung eine andere. Beide hängen selbstverständlich eng
miteinander zusammen, jedoch nicht in dem Maße, daß dies dafür als Grundlage
dienen könnte, die beiden Begriffe miteinander zu vermischen. Aus diesem Grunde
ist die Normenkontrolle (die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit einer
Rechtsnorm) von der Lenkung der Praxis der Rechtsanwendung zu unterscheiden.
Das Verfassungsgericht hat – abgesehen von der Auslegung einzelner Bestimmungen
der Verfassung mit Wirkung erga omnes – eine gesetzliche Ermächtigung nur in
bezug auf die erstere, nicht aber auf die letztere. Die letztere gehört der
Kompetenz anderer Organe an, und im ungarischen Rechtssystem haben sich für die
Wahrnehmung dieser Aufgabe die entsprechenden rechtlichen Mittel entwickelt.
[…]
Die in der Begründung der
Entscheidung des Verfassungsgerichts dargelegte Theorie des »lebendigen Rechts«
kann ich aus den folgenden Gründen nicht annehmen:
a) […] In einem Rechtsstaat muß
der Wille des Gesetzgebers respektiert und zur Geltung gebracht werden. Wenn
sich also die Rechtsanwendung durch verfassungswidrige Auslegung einer
Bestimmung dem Gesetz widersetzt, müssen die rechtsanwendenden Organe mit
entsprechenden rechtlichen Mitteln zur verfassungsmäßigen Auslegung und
Anwendung des Gesetzes (oder einer anderen Rechtsnorm) veranlaßt und nicht der
Gesetzgeber wegen der verfassungswidrigen Rechtsauslegung seitens der
rechtsanwendenden Organe dadurch »bestraft« werden, daß das Verfassungsgericht
die bei richtiger Auslegung nicht verfassungswidrige Bestimmung aufhebt.
b) In bezug auf die Gesetze hat
das Verfassungsgericht kein Recht auf Auslegung mit Wirkung erga omnes. […]
Dadurch, daß irgendeine Bestimmung mehrere Auslegungen zuläßt, wovon eine
verfassungswidrig ist, wird eine in Frage stehende Bestimmung an sich noch
nicht verfassungswidrig.
c) Die
Rechtsnorm ist der in entsprechender Form geäßerte und verkündete Wille der zur
Gesetzgebung ermächtigten Organe, nicht aber der sich in der Praxis der
Rechtsanwendung verwirklichende Wille der rechtsanwendenden Organe.
Dementsprechend ist die Rechtsnorm – welche das Verfassungsgericht der
nachträglichen Normenkontrolle unterwerfen kann – der in Magyar Közlöny
verkündete Wortlaut und nicht dessen durch die Praxis der Rechtsanwendung
korrigierte und dadurch entstellte Version. Eine Abweichung von dieser
Auffassung der Rechtsnorm bedeutet nicht nur die Anerkennung der
Daseinsberechtigung des gesetzesaufhebenden und gesetzändernden
Gewohnheitsrechts; vielmehr beraubt sie die Bürger und die juristischen
Personen der Möglichkeit, das geltende Recht kennenzulernen. Die Verkündung der
Rechtsnorm hat nämlich die Bedeutung einer Garantie, ist doch die rechtliche
Konsequenz an sie geknüpft, daß sich niemand erfolgreich auf die Unkenntnis
einer ordnungsgemäß verkündeten Rechtsnorm berufen kann. Ist aber der Inhalt
der Rechtsnorm nicht derjenige, der verkündet worden ist, sondern der, welchen
ihr die ständige und einheitliche Praxis der Rechtsanwendung zuschreibt, kann
dies eine völlige Rechtsunsicherheit heraufbeschwören. […] Auf diese Weise ist
die in der Entscheidung dargelegte Theorie des »lebendigen Rechts« unvereinbar
mit dem Rechtssystem und mit der Rechtsstaatlichkeit unseres Landes. […]
d) […] Aufgrund dessen nämlich,
daß die Macht des Verfassungsgerichts beschränkt ist, kann es die Folgen von
vielerlei Rechtsverletzungen nicht beheben. […]
e) Wenn sich das
Verfassungsgericht die Theorie des »lebendigen Rechts« zueigen macht, so hat
dies zwangsläufig zur Folge, daß es praktisch nie aufgrund des verkündeten
Wortlauts der Normen entscheiden kann; es muß vielmehr stets die Praxis der
Rechtsanwendung prüfen, zumindest unter dem Gesichtspunkt: Ist sie »ständig und
einheitlich«? Dafür aber hat der Spruchkörper weder die Kompetenz, noch verfügt
er über einen entsprechenden Fachapparat.”[4]
Aus der abweichenden Meinung von
Kilényi jetzt möchte ich nur zwei Momente herausheben. Erstens, daß er einen
ausdrücklichen, markanten normativistischen Standpunkt vertritt, was die Lehre
des lebendigen Rechts kontrastiere; zweitens, daß sein Standpunkt auf das früher
aufgezeichnete Problem keine Lösung leisten kann.
Auf dem Grund
der Lehre des lebendigen Rechts sind einige Entscheidungen des Verfassungsgericht
zustandegekommen, doch diese Lehre galt nur für kurze Zeit als lebendige
Verfassungsgerichtspraxis. László Sólyom, der erste Präsident des
Verfassungsgericht schrieb später, daß das Verfassungsgericht nach dem die
Rechtsinstitut einleitenden Urteil nur vier „wirkliche” Beschlüsse getroffen
habe, die über die Verfassungsmäßigkeit des lebendigen Rechts entschieden
haben. Sie seien das den Gesetzlichkeitseinspruch aufhebende Urteil [Nr.
9/1992. (I. 30.) AB], das den Zeugen auf Blutentnahme verpflichtende Vorschriften
aufhebende Urteil [Nr. 75/1995. (XII. 21.) AB] und noch zwei Entscheidungen
[Nr. 826/B/1996. AB; Nr. 994/B/1996. AB]. Die Berufung auf das lebendige Recht
war in anderen Urteilen nicht entscheidend, oder der Terminus in einem anderen
Sinn angewandt wurde.[5] Ich
meine so, daß nur zwei solche „wirkliche” Urteile zustandegekommen sind.
Sólyom hat recht darin, daß weder
das Erwähnen noch die Berufung auf das lebendige Recht bedeutet die Begründung
des Urteils durch dieser Lehre. Meiner Meinung nach hat diese Lehre auch
weitere charakteristische Merkmale.
In der Dimension der
normativistischen und soziologischen Rechtsanschauungen ihr Rechtsbegriff (das
Recht ist nicht identisch mit den Gesetzen in formellen Sinne) und ihre
rechtspolitische Zielsetzung (die Versicherung der Verfassungsmäßigkeit der
juristischen Praxis) drückt eine soziologische Anschauung aus; in ihren Mitteln
aber ist sie – wegen der Ermangelung echter Verfassungsbeschwerde –
notwendigerweise „normativistisch”: sie hebt das Gesetz auf. Die Lehre des
lebendigen Rechts ist auch deswegen nicht identisch mit der bloßen Berufung auf
das lebendige Recht, weil sie die Möglichkeit der verfassungsmäßigen Auslegung
der umschrittenen Reschtsnorm notwendigerweise beinhaltet. Gibt es keine solche
Möglichkeit, dann ist die Rechtsnorm an sich selbst verfassungswidrig, die
Lehre des lebendigen Rechts wird unnötig, überflüssig; sind der Normtext und
die Praxis der Rechtsanwendung gleichermaßen verfassungsmäßig, gibt es keine
Verfassungsgerichtssache. So hat diese Lehre einen kritischen Charakter, sie
kann nur solche Urteile begründen, die die Rechtsvorschriften aufheben oder
verfassungswidrig Untätigkeit feststellen. Sie drückt jene rechtspolitische
Bestrebung aus, daß die einheitliche Auslegung der Verfassung und die
Verfassungsmäßigkeit versichert werden, ohne die Kompetenz des Obersten Gerichts
zu verletzen. Die Anerkennung der Lehre des lebendigen Rechts zieht zwei
weitere logische Folgen nach sich: die eine ist die Anerkennung, mindestens
Tolerierung der richterlichen Rechtbildung; die andere ist die
Unentbehrlichkeit bestimmter Festlegungen der Tatbestanden, was mit der Ermangelung
des kontradiktorischen Verfahren in scharfen Widerspruch gerät. Also die Lehre
des lebendigen Rechts ist nur selten anwendbar, und sie hat bedeutende
Nachteile, außer dem Vorwurf der Kompetenzüberschreitung.
Aus den von Sólyom erwähnten
„wirklichen” Urteilen sind zwei Urteile [Nr.826/B/1996. AB, und Nr. 994/B/1996.
AB] meiner Meinung nach keine „wirkliche”, weil das Verfassungsgericht in
beiden Fälle die Verfassungsmäßigkeit der Rechtsanwendungspraxis festgestellt
und die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen hat, obwohl die Anträge sich auf
das lebendige Recht beriefen. Im Falle des Gesetzlichkeitseinspruchs waren die
gesetzlichen Vorschriften auch an sich selbst verfassungswidrig, die Prüfung
der Rechtsanwendungspraxis hat nur die Folgen dieser Verfassungswidrigkeit
besser dargestellt. Die Lage war ähnlich im Falle der – von Sólyom als
Grenzfall bezeichneten – Entscheidung über den immateriellen Schadenersatz. Im
Falle des Blutentnahme-Urteils war keine Möglichkeit für die verfassungsmäßige
Auslegung, weil die verfassungsmäßige Lösung – man sollte den Ausdruck „jede(r)
Interessierte” im Sinne „jede(r) Teil im Prozess” interpretieren – mit Mitteln
der Auslegung nicht erreichbar war. Also die ausführlichere Prüfung zeigt, daß
es nur zwei spätere Urteile gibt, die inhaltlich auf der Lehre des lebendigen
Rechts beruhen. Sie sind die Entscheidungen Nr. 4/1999. (III.31.) AB und
6/2001.(III.14.) AB. In diesen Fällen hat das Verfassungsgericht
verfassungwidrige Untätigkeit festgestellt, was nur dann überzeugend ist, wenn
man aufzeigt, daß „das lebendige Recht” verfassungswidrig sei.
Zwanzig Monate nach dem ersten
einführenden Urteil hat das Verfassungsgericht eine mit der Lehre des
lebendigen Rechts total entgegengesetzte Entscheidung getroffen. Das Urteil Nr.
38/1993. (VI.11.) – dessen Berichterstatter László Sólyom war – hat die Doktrin
der verfassungsmäßigen Auslegung statt der Lehre von lebendigem Recht
eingeführt. Das Verfassungsgericht hat ausgesagt: „das Verfassungsgericht kann
als Ergebnis der Prüfung der Verfassungsmäßkeit der Rechtsnorm die verfassungsmäßigen
Erfordernisse durch Entscheidung festsetzen, denen die möglichen Auslegungen
der Norm entsprechen müssen.”[6] Wir
haben in diesem Beitrag keinen Ort, diese Entscheidung ausführlich zu
analysieren und die beiden Doktrinen zu vergleichen. Ich möchte hier den
Gegensatz der beiden einführenden Entscheidungen kurz darstellen. Obwohl die
Anträge sich darauf berufen haben, daß der Justizminister das Gesetz bei der
Ernennung der Gerichtspräsidenten verfassungswidrig interpretiert und
angewendet hat, hat das Verfassungsgericht das lebendige Recht diesmal nicht
geprüft, die Aufhebung der einschlägigen Paragraphen zurückgewiesen – wie das
aus der Lehre des lebendigen Rechts folgen sollte. Gleichzeitig hat das
Verfassungsgericht folgende ausgesagt: „Für die Ernennung der Richter und der
Leiter der Gerichte gebietet die Verfassung, daß die Auswirkungen der
politischen Natur des Amtes, das derjenige in einer anderen Staatsgewalt
bekleidet, der die Ernennung vornimmt oder inhaltlich bestimmend vorschlägt
entweder durch substantielle Mitwirkung der rechtsprechenden Gewalt oder durch
ein anderes Gegengewicht außerhalb der rechtsprechenden Gewalt neutralisiert
werden. Dieses Verfassungserfordernis gilt auch für den Fall, dall die Ämter
der Richter oder der Leiter der Gerichte durch Wahl besetzt werden.”[7] Daß
dieses Verfassungserfordernis sich tatsächlich nicht verwirklicht hat, hat das
Verfassungsgericht außer Acht gelassen.
Den Unterschied der beiden
Entscheidungen gut zeigen die folgenden Teile aus den Begründungen.
„Auch daraus folgt also, da die
Rechtsprechung in Ermangelung einer diesbezüglichen Kompetenz nicht den
Gegenstand eines Verfahrens vor dem Verfassungsgericht bilden kann, daß das
Verfassungsgericht den Wortlaut der Normen inhaltlich in dem Sinne prüfen muß,
den ihm die einheitliche Rechtsanwendungspraxis zuschreibt. Und wenn die
Rechtsnorm in der ständigen und einheitlichen Praxis – unter mehreren möglichen
Bedeutungen – mit verfassungswidrigem Inhalt lebt und sich so verwirklicht, muß
im Verfahren vor dem Verfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit der
Rechtsnorm festgestellt werden.”[8] [Nr. 57/1991.(XI.8.)AB]
Etwas anders im anderen Urteil:
„Wenn die geprüfte Rechtsnorm eine (oder mehrere) Auslegung(en) zuläßt, welche
die verfassungsmäßigen Postulate erfüllt (erfüllen), muß das Verfassungsgericht
die Verfassungswidrigkeit der Norm nicht unter allen Umstünden feststellen. Die
Norm muß nicht in allen Füllen bloß deswegen aufgehoben werden, weil auch eine
den verfassungsmäßigen Erfordernissen nicht entsprechende Auslegung möglich ist
oder vorkommt. Bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit kann jedoch diejenige
Auslegung der Rechtsnorm, welcher die Rechtspraxis einheitlich folgt, das heißt
der sich im »lebendigen Recht« äußernde Normeninhalt nicht außer acht gelassen
werden. Wenn die Rechtsnorm auf diese Weise mit verfassungswidrigem Inhalt zur
Geltung kommt, sind die Feststellung der Verfassungswidrigkeit und die
Anwendung ihrer Rechtsfolgen unausweichlich. Doch muß das geltende Recht
ansonsten, wo möglich, geschont werden.”[9]
Also wir können feststellen, daß
keine ständige und konsequente Verfassungsgerichtspraxis auf der Lehre des
lebendigen Rechts aufgebaut wurde, die Praxis des Verfassungsgericht in dieser
Beziehung inkonsequent und situativ war.
[1] Georg Brunner: Vier Jahre ungarische Verfassungsgerichtsbarkeit. In Georg Brunner /László Sólyom: Verfassungsgerichtsbarkeit in Ungarn, Nomos 1995, Baden-Baden S. 35.
[2] Brunner/Sólyom, S. 179.
[3] Brunner/Sólyom, S. 243-244.
[4] Brunner/Sólyom, S. 253-255.
[5] Sólyom László: Az alkotmánybíráskodás kezdetei Magyarországon. Osiris, Budapest, 2001. S.296.
[6] Brunner/Sólyom, S. 475.
[7] Brunner/Sólyom, S. 475.
[8] Brunner/Sólyom, S. 243.
[9] Brunner/Sólyom, S. 487.