András Karácsony

 

Gesellschaftstheorie und Recht

 

         In diesem Vortrag werde ich die Beziehung zwischen rechtlicher Begriffswelt und gesellschaftstheoretischem Denken untersuchen.[1] Im ersten Teil blicke ich kurz in die Geschichte zurück; dabei werde ich die Frage erörtern, welche Rolle das Recht in jenen philosophischen Erklärungen spielt, die sich mit dem Entstehen der Gesellschaft, bzw. der Gesellschaftsordnung auseinandersetzen. Im zweiten Teil werde ich versuchen -- mit Hilfe einiger neuen Theorien -- die Frage zu beantworten, welche Konsequenzen es mit sich zieht, wenn man die gesellschaftstheoretische und die rechtsoziologische (rechtsphilosophische) Problematik gegenseitig aufeinander bezieht. Dabei werde ich eingehend die Rechtsauffassung des Niklas Luhmann erörtern.

 

I.

 

         In meinem historischen Rückblick kann ich wegen umfangmäßiger Begrenzungen auf die Periode vor der Neuzeit nicht eingehen. Es ist ohnehin eine schwere Aufgabe die Traditionen der modernen Theoriegeschichte detaiiliert unter die Lupe zu nehmen. Das bedeutet natürlich überhaupt nicht, daß ich die intellektuellen Errungenschaften der Vor-Neuzeit-Periode in irgendwelcher Hinsicht unterschätzen würde. Bis zum Belaufe eines Zusammenhanges muß ich jedoch die Jahrhunderte, die der Neuzeit unmittelbar vorangegangen sind, kurz ansprechen. Dadurch möchte ich den Übergang in die Moderne, das wesentliche Merkmal der Umwandlung vor Augen führen.

         Bis zur Neuzeit hatten sich Gesellschaften durch die territorriale Ausdehnung ihrer politischen Macht definiert. Die Entstehung politischer Reiche hat immer wieder die Frage aufgeworfen, wie ein Zentrum ein größeres Gebiet kontrollieren kann. Gesellschaft wurde also durch das Metapher der Räumlichkeit, oder anders ausgedrückt, als territorial festlegbare Abgesondertheit definiert. In der Vorstellung der Menschen waren damals die Grundlagen der Gesellschaftsordnung (in Europa wenigstens) mit der Natur, bzw. mit der göttlichen Natur verbunden, wie das schon bei Sankt Augustin ("De civitate Dei") zu lesen war. Da fängt der Siegeszug des -- im hellenistischen Geist wurzelnden -- naturrechtlichen Denkens an.

         Die Entdeckung und die weite Verbreitung des Naturrechtes kann man auch als Leugnung dessen interpretireren, daß eine Gesellschaft auch selbständig ein Rechtssystem zustandebringen kann, oder zumindest ist ihre diesbezügliche Fähigkeit vom Naturrecht her wesentlich eingeengt. Das niedrigere Recht basiert auf höheres Recht, und dieser Grundlegungsprozess wird  von der Hierarchie der Rechtsquellen bestimmt (lex divina oder lex aeterna -- lex naturalis -- lex humana oder lex positiva). Der Grundlegungsprozess kann also in zwei Phasen geteilt werden. Gesellschaft gliederte sich erstens in die natürliche Ordnung ein. Diese Phase wurde durch das Naturrecht ausgedrückt. Unter Natur verstand man die Natur des Menschen, und dies hat auch die Frage aufgeworfen, wie sich die Natur des Menschen von anderer Naturexistenzen unterscheidet. Die Antwort beinhaltet meistens den Hinweis auf die Seele und/oder Verstand als Unterscheidungsmerkmal. Der zweite Schritt war dann die sakrale Fundierung des Naturrechtes. Das heißt, Gesellschaft basierte sich nicht einfach auf die Natur, sondern auf die göttliche Natur.

         Genau das hat sich mit der Modernität geändert. Diese Umwandlung kann man auch als Umstieg vom "Recht der Natur" in das "Recht der Gesellschaft" beschreiben, im Hintergrund mit der Tatsache, daß die neuen Gesellschaftserklärungen nicht mehr an die Natur geknüpft waren.

         In der Deutung des Begriff "Gesellschaft" hat das 16.-18. Jahrhundert grundlegende Änderungen mit sich gebracht. Die aus den geographischen Entdeckungen und aus der Kolonisation stammenden neuen Erfahrungen haben es immer unmöglicher gemacht jene Vorstellungen aufrechtzuerhalten, wonach Gesellschaften durch die Gebiete politischer Herrschaft, das heißt, durch das räumliche Nebenainandersein bestimmter Personen zu definieren ist. Das "Metapher der Räumlichkeit" wurde nicht nur wegen neuer historischen Erfahrungen angezweifelt. Ab dem späten Mittelalter gab es auch im Bereich der rechtlichen Begriffsbildung zu einer Umwandlung. Man fing an den Begriff "Gesellschaft" in zweierlei Bedeutungen zu gebrauchen:

(a) im Bezug auf die "Gemeinschaft", wo anfangs das Eigentumsverhältnis des gemeinsam benutzten Landes dahinter stand. Später wurde der Bergriff vergallgemeinert, und auf die ideale Gemeinschaftlichkeit übertragen; und

(b) im Bezug auf jenen universellen Lebensumstand, der die einzelnen Individuen  und die einzelnen Gesellschaftsgruppen zusammenfaßt, und auf die kulturelle Gemeinschaft der Bürger hinweist.

Ab dem 17. Jahrhundert wird der Begriff "society" -- vor allem von den englischen Moralphilosophen -- für die moralische (zivilisierte) Menschheit benutzt. Gesellschaft erschien als Objekt einer -- Ethik und Politik gleichfalls umfassenden -- praktischen Philosophie, und Gesellschaftstheorie erschien als eine der moralphilosophischen Disziplinen. (Das Stichwort "Société" der französischen Encyclopédie weist ebenfalls auf "Morale" hin). Daneben war aber auch der aus den Rechtwissenschaften bekannte Begriff "societas" präsent. In diesem Sinne hieß es eine vertraglich festgelegte Vereinigung von Personen. Diese Bedeutungsvariante hat -- mittels theoretischer Verallgemeinerung -- eine der wirkungsvollsten Kontrsuktionen des Modernen gesellschafttheoretischen Denkens, und zwar die Vertragstheorien zustande gebracht. Hobbes, Locke oder Rousseau schufen äußerst verschiedene Theorien, und jedoch hatten sie etwas gemeinsam: wenn sie das Entstehen der Gesellschaftsordnung beschrieben und erklärten, da spielten Rechtsbegriffe immer eine zentrale Rolle.

Hobbes hat einen entscheidenden Schritt gemacht um Gesellschaftstheorie von traditioneller Metaphysik abzukoppeln. Menschliche Natur und Gesellschaftstruktur waren bei ihm in Wechselbeziehungen begriffen. (Schülein, 1987:34-35). Hobbes trat nicht nur mit der neuen Anthropologie hervor, sondern hat auch die Frage der gesellschaftlichen Integration -- das heißt Vermittlung zwischen Individuum und Gemeinschaft -- aufgeworfen. Er hat diese Problematik

als Frage der gesellschaftssteuernden Institute behandelt.

         Locke unterscheidet zwischen gesellschafstkonstituierende Verträge, und jene, die zwischen Gesellschaft und Herrscher abgeschlossen wurden. Er ist zwar nicht der naturrechtlichen Tradition gefolgt, behielt aber den Naturzustand als Ausgangspunkt, und betonte jenen Argument, wonach der Mensch nur die Macht übertragen kann, die schon im natürlichen Zustand sein eigen war, und -- da niemand jemals über eine absolute Macht verfügt hatte -- so kann Willkürherrschaft niemals rechtmäßig sein.

         Bei Rousseau gerät Naturrecht -- wie Strauss feststellte (1977:286-307) --schon in einen kritischen Zustand, der rechtliche Aspekt ist aber weiterhin grundlegend bei dem Elaborieren der Gesellschaftslehre. Bei Rousseau deutet der Begriff 'Naturrecht' nicht mehr auf die ursprünglichen Lebensumstände der Menschen hin, also nicht auf eine vergangene Tatsache, sondern der natürliche Zustand ist eine unerläßliche Annahme zum rechtlichen Status des Menschen. Charakter und Inhalt des Naturrechtes wird grundsätzlich davon beeinflußt, wie  wir uns die frühen Zeiten des Menschen vorstellen, und wenn es keine solchen Zeiten gab, dann wird es äußerst schwer Inhalte des Naturrechtes zu definieren. Bei Rousseau wird Naturrecht eindeutig in Verstandsrecht umgewandelt, und der Begriff der allgemeinen Wille tritt auf den Platz des allgemeinen traditionellen Naturrechtes.[2]

         Übrigens zeigt dieses Jahrhundert nicht nur den Übergang des Naturrechts in das Verstandsrecht, sondern in diesem Zusamenhang ist auch eine neuartige philosophische Rechtstheorie geboren. Sie entstand gerade als Ergebnis davon, daß das in Verstandsrecht umgewandelte Naturrecht im 18. Jahrhundert in den Rechtsunterricht eingebaut wurde, und dieser Unterricht -- der ursprünglich ja für die positive Rechtwissenschaft (Jurisprudenz) ausgestaltet wurde -- entfernte sich in dieser Umgebung immer mehr vom praktischen Recht, und führte zur Entstehung einer neuen, eigentständigen Disziplin (Luhmann, 1997:975).

Nicht nur im vertragstheoretischen Paradigma, sondern auch im 18. Jahrhundert, in den Kritiken der Vertragstheorien hat sich Recht, bzw. die Analyse der Rechtstheorie an die Anaylse der Gesellschaft angeknüpft. So hat z.B. schon Smith und Ferguson ihre Aufmerksamkeit auf das differenzierte Wesen der Institutionen gerichtet, und so haben sie die verschiedenen Institutitonen in dem Zusammenspiel von Leistungen und Risiken untersucht.

Durch die Erkennung der Umgestaltbarkeit der Gesellschaft hat sich der Bergiff Gesellschaftsordnung endgültig von der Vorstellung der unveränderten Natur gelöst. Wenn man die Geschichte der Gesellschaft als menschliche Schaffung versteht, dann ist im Jahrhundert der Aufklärung nicht nur einfach die Frage des Fortschritts in den Vordergrund geraten, sondern auch die Frage -- die Erscheinung der Revolution als geschichtsphilosophischer und politischer Aktionsbegriff ist bezeichnend dafür --, ob Fortschritt akzeleriert werden kann. (Koselleck, 1979:67-86). Die Umgestaltbarkeit der Gesellschaft zieht Unsicherheit mit sich (Evers-Nowotny, 1987). Und Unsicherheit unterstreicht wiederum, wie wichtig Recht ist, wobei Recht Stabilität der Gesellschaftsordnung und des geordneten Fortschritts heißt. Die Modernisierungstheorien -- worunter wir das bewußte Folgen der Muster der Modernität, also die Strategie der "aufschließenden" Nationen verstehen -- sind "von oben kommende", koordinierte Bestrebungen, und als solche, haben sie die Realisierung moderner Gesellschaften erst mit einer starken Anlehnung an das Recht für möglich gehalten.[3]

         In dem Hintergrund dieser Änderungen -- wie ich darauf schon hingewiesen habe -- ging eine große Umwandlung vor sich: da haben sich die Vorstellungen selbst über die Natur gewandelt. In den modernen Gesellschaften hat Natur ihre traditionelle Rolle als normative Instanz verloren. Denken wir nur daran zurück, daß der Mensch in den uralten Zeiten sich als Teil des Kosmos verstand, oder denken wir an das Grunderfordernis der natürlichen Lebensweise, an die ästhetische Beziehung zur Natur, an das Naturrecht, das früher das Gesellschaftsleben geordnet hatte. Bacon, einer der ersten Vertreter des modernen Denkens hat als Zweck der Wissenschaft die Beherrschung der Natur bezeichnet, doch hatte er es noch für wichtig gehalten es zu betonen, daß man dabei die Natur zutiefst ehren soll. Bei Galilei und Descartes war das Erforschen der Naturgesetze schon mit der technischen Herstellbarkeit und mit der Manipulation der Natur verknüpft.

         In den vergangenen Jahrtausenden wurde Natur als "unberührt" und als "wild" angesehen, sie war irgendetwas, die für sich ihre eigene Ordnung schuf. In der Modernität, also im Zeitalter der "technischen Reprodozierbarkeit der Natur" ist die Grenzlinie zwischen dem "Natürlichen" und dem "Künstlichen" verschwommen, und die Bezugnahme auf die Natur hat ihre Eindeutigkeit eingebußt. Als Folge der Manipulationsmöglichkeiten hat sich das Vertrauen zur Natur langsam verflüchtigt, und fortan wurde sie nicht nur von der Gesellschaft, sondern auch von der Wissenschaft grundsätzlich anders betrachtet: Sie galt nicht mehr eine vom Mensch unabhängige Gegebenheit, sondern eine, die von des Betrachters Perspektive unzertrennbar ist. Und diese "Natur" konnte nicht mehr als Fundament für die Vorstellung der unveränderten Gesellschaft dienen.

         Alle Entwicklungstheorien, die die Grundcharakteristika der Gesellschaften beschrieben, haben sich bis zum ersten drittel des zwanzigsten Jahrhunderts ganz spektakulär mit der Problematik des Rechtes verflochten. Nehmen wir zum Beispiel Durkheim, der bei seinen geschichtlichen Untersuchungen den Übergangsprozess aus der religiöser Normativität in die rechtliche Normativität, mit anderen Worten "die Verrechtlichung des Heiligen" hervorhob.[4] Oder nehmen wir die Weber'sche Handlungstheorie, wo die Thematisierung des Rechtes an die Problematik der rationellen Handlung und an die Erforschung der Enstehung moderner Gesellschaften verknüpft war. Nach den Dreißigern hat dann eine neue Anschauung an Boden gewonnen -- vor allem in den phänomenologisch beeinflußten Strömungen --, und zwar die, die Gesellschaftlichkeit an eine intersubjektive Einfühlung knüpfte, und in der nicht mehr viel Raum für die normative Struktur der Gesellschaft übrigblieb.

         Diese "rechtsfreie" Periode der Gesellschaftstheorie dauerte allerdings nicht sehr lange. In den Jahrzehnten der Nachkrigeszeit kamen wieder die Bestrebungen zum Vorschein, die es aus gesellschaftstheoretischen Gesichtspunkten für wichtig hielten, die Sphäre des Rechtes zu untersuchen. Der Zeitordnung nach muß ich mich hier ertmals an die Arbeit von Parsons beziehen. Sein Lebenswerk war eng mit dem deutschen intellektuellen Traditionen verbunden, was für amerikanische Verhältnisse eigentlich recht ungewöhnlich war. Es ist ebenfalls auffallend, daß dieses Werk, wirkungsgeschichtlich gesehen, eine starke Rückkopplung zum deutschen geistigen Leben fand, indem es eine grundlegende Wirkung auf deutsche Gesellschaftstheorien der Nachkrigeszeit ausübte (Schelsky, Luhmann, Münch, Habermas)

         Bei Parsons (1962) ist Recht einer der gesellschaftlichen Kontrollmechanismen, übt Einfluß -- in einer diffusen Weise -- praktisch auf alle Bereiche der Gesellschaft aus, und erfüllt dadurch seine grundsätzliche Funktion: nämlich die der gesellschaftlichen Integration. Parsons sah sich jedoch mit einem unauflösbaren Widerspruch konfrontiert: wenn er Recht als eigenständiges, abgesondertes System betrachtete, war er nicht imstande die Ganzheit des Rechtes zu thematisieren. Wenn er aber sich mit der Beschreibung des Rechtes als Ganzheit versucht hat, dann mußte er eben das Recht sozusagen "zerlegen", und zwar entlang der Gliederungslinien der verschiedenen gesellschaftlichen Sphären (so wie Ethik, Politik, Wirtschaft, etc.). Münch -- einer der orthodoxesten Anhänger Parsons unter den Deutschen -- löste dieses Dillema indem er sofort beim Ausgangspunkt die übergreifende "Interpenetration " der verschiedenen Teilsystemen -- das heißt, die gegenseitige Aufeinanderbeziehung der "zerlegten" Teile -- festlegte.

         Die gesellschaftstheoretischen und rechtssoziologischen Studien Schelskys (1980) folgten dann die selbe Richtung, allerdings mit dem gewichtigen Unterschied, daß Schelsky pogrammartig deklarierte: Recht ist nicht einfach gegenstand einer Fachsoziologie (nämlich der Rechtsoziologie), sondern es ist die soziologische Institutionstheorie, oder gar die Theorie der Sozialität, und kann ohne die Thematisierung des Rechtes nicht beschrieben werden, weil das Recht in Hinsicht auf die strukturellen Gesetzmäßgkeiten der Gesellschaft von grundlegender Bedeutung ist. Nach Schelskys Ansicht war es Funktion des Rechtes gesellschaftliche Änderungen zu steuern und zu stabilisieren. “Recht wirkt nicht nur konfliktlösend, sondern primär wahrscheinlich konfliktverhütend“ (Schelsky, 1980:77). Wie wir sehen, Recht ist bei Schelsky ein besonders wichtiges Thema der Gesellschaftstheorie. Das wissend, können wir uns nicht wundern, daß er die anderen deutschen gesellschaftstheoretischen Bestrebungen (Gehlen, Dahrenford, Habermas) gerade darum so oft wegen ihrer Einseitigkeit tadelte, weil sie das Thema des Rechtes vernachlässigten. Er rügte auch Luhmann, der sich in der Begriffswelt der Systemtheorie bewegte, und Recht zwar immer in den Vordergrund seiner gesellschaftstheoretishen Forschungen stellte, jedoch -- wie Schelsky meinte -- das Recht bloß als Integrator sozialer Systeme betrachtete, und damit die freiheitschützende Funktion des Rechtes außer Acht ließ (Schelsky, 1980:77-94).

         Diese kritischen Bemerkungen betrafen die in den sechziger und siebzieger Jahre publizierten Werke von Habermas und Luhmann. In der darauf folgenden Periode haben diese beiden Autoren wichtige Arbeiten veröffentlicht, die gerade die gesellschaftstheoretische Thematisation des Rechtes betrafen. Zu den luhmannschen Betrachtungen werde ich noch in Detail zurückkehren, aber bezüglich Habermas, möchte ich hier ganz kurz eine Bemerkung machen. In seinen Büchern, die ab Anfang der Achtziger veröffentlicht wurden, nahm die Auslegung des Rechtes einen immer wichtigeren Platz ein, und innerhalb dieses grundsätzlichen Konzeptionswechsels wurden zwei verschiedene theoretische Alternativen hervorgehoben.

         Zwischen dem gesellschaftstheoretischen Grundriß vom 1981 ("Theorie des kommunikativen Handelns") und der aus dem Jahre 1992 stammenden rechtsphilosophischen Arbeit ("Faktizität und Geltung") kann man eine bedeutende Verschiebung der Akzente beobachten. In der "Theorie des kommunikativen Handelns" verbindet Habermas das Recht grundsätzlich zum System, und behandelt es als einen Kolonialisator der Lebenswelt. In diesem Zusammenhang hieß Recht das positive Recht, also jenes Medium des unpersönlichen Funktionierens des Systems, wodurch die Verrechtlichung der Gesellschaft zustandekommt. In der rechtsphilosophischen Publikation von 1992 wird das in der Lebenswelt entstehende Recht, das heißt, die in der herrschaftslosen Kommunikation auftretende gemeinsame Wille in den Mittelpunkt gesetzt. In seinen Diskurstheoretischen Betrachtungen hat Habermas einerseits die ethische und rechtliche Normativität klar abgegrenzt, andererseits bekam die Analyse der deliberativen Grundrechte eine Schlüsselrolle. Drittens aber entstand da eine unauflösbare Spannung. Und das heißt: Habermas gelang es nicht in seiner gesellschafttheoretischen Rechtsaufassung das Recht einheitlich zu thematisieren. Recht hat nämlich in zwei Teile auseinandergefallen, die einander gegenüber nicht vermittelbar waren. Der eine Teil war das "positive" Recht des Systems, und der andere Teil war das "diskursive"  Recht der Lebenswelt.

         Am Ende dieses kurzen theoriegeschichtlichen Rückblicks möchte ich an die Gerechtigkeitstheorie von Rawls hinweisen. Sie war jene einflußreichste Theorie der siebziger Jahre, die gerade in ihrem Grundbegriff (in der Gerechtigkeit) die gesellschafttheoretische und die (natur)rechtliche Tradition miteinander verband. Rawls nahm die folgenden Theorien als Ausgangspunkt für die Definition dessen, wie eine gerechte Gesellschaft funktioniert:

1. (konstruktives Prinzip) “Jede Person hat ein gleiches Recht auf ein völlig adäquates System gleicher Grundfreiheiten, das mit dem entsprechenden System von Freiheiten für alle vereinbar ist.“

2. (regulatives Prinzip) “Gesellschaftliche und ökonomische Ungleichheiten müssen zwei Bedingungen genügen: erstens müssen sie mit ämtern und Positionen verbunden sein, die allen unter Bedingungen fairer Chancengleichheit offenstehen, und zweitens müssen sie den größten Vorteil für die am wenigsten begünstigten Mitglieder der Gesellschaft bringen.“ (Horster, 1995:175)

 

 

II.

 

         Im zweiten Teil meines Vortrages möchte ich -- auf eine konkrete Theorie stützend -- einige Gedanken über die gesellschaftstheoretische Thematisierung des Rechtes formulieren. Diese Theorie wurde von Niklas Luhmann ausgearbeitet.

         In Luhmanns wissenschaftlicher Laufbahn hat von Anfang an das Interpretieren des Rechtes eine wichtige Rolle gespielt. Schon in seiner systematisierender Arbeit von 1972, in der "Rechtssoziologie" (Luhmann, 1972/1983) hat er angedeutet, daß seine Darstellungen in erster Linie gesellschaftstheoretische Perspektiven haben. Jedoch war die dazu nötige Begrifflichkeit damals noch nicht ausreichend elaboriert. Gerade darum haben viele Leser diese Arbeit -- auf Grund des Titels -- für eine rechtssoziolgische (fachsoziologische) Studie gehalten. Seine späteren Studien und Monographien haben aber schon eindeutig die Rahmen der Rechtssoziologie gesprengt. Warum Luhman trotzdem das Recht als herausragendes Thema des Bereichs Gesellschaftstheorie betrachtete? Da steckt eine richtig gravierende theoretische Überlegung im Hintergrund.

         In den siebziger Jahren hat er die funktionell differenzierte Gesellschaft als solche betrachtet (Luhmann, 1981: 374-384), die eine zentrale Rationalität haben, nämlich die Wirtschaft. In diesem theoretischen Rahmen war die Geschichte der Enstehung der modernen Gesellschaft ganz einfach damit charakterisiert, daß Wirtschaft die führende Rolle von der Politik übernahm.[5] Später jedoch wurde die funktionell differenzierte moderne Gesellschaft -- vor allem nach der Erscheinung der "Sozialen Systeme" (1984) -- als azentrische Gesellschaft dargestellt, das heißt als Gesellschaftsstruktur, in dem keines der Subsysteme eine herausragende Funktion hat. Wenn alle Teilsysteme (Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Recht, Kunst, etc.) gleichermaßen wichtig sind, womit kann man diese rege Interesse für das Recht erklären?

         Bevor ich diese Frage beantworte, muß ich feststellen, daß die Theorien keine Spiegelbilder der Realität sind, und wenn die untersuchte Realität keine hierarchische Struktur hat, daraus ergibt sich noch lange nicht die Folgerung, daß die theoretische Beschreibung, und deren Begriffssystem frei von jeder Hierarchie wäre. Alle Theorien müssen nämlich irgendwo einen Ausgangspunkt haben. Dies ist in der Grundbegrifflichkeit verankert, wovon ausgehend die weiteren Begriffe abgeleitet werden. Die Begriffsordnung der Theorien ist hierarchisch -- ausgenommen die Autoren, die sich der postmodernen Nach-Belieben-Grundlage bedienen, aber Luhmann gehört nicht zu dieser Kategorie. Bei Luhmann bekommt die Rechtsanalyse nicht in der Realität der modernen Gesellschaft, sondern in dem gesellschaftstheoretischen Bauwerk eine wichtige Rolle. Die Frage lautet weiterhin: warum?

         An dieser Stelle habe ich keine Zeit die luhmannsche Sozialitätstheorie in Detail zu untersuchen. Ich möchte nur auf einen Grundbegriff, auf den Begriff der Erwartung eingehen. Alle Handlungen und Erlebnisse der Individuen werden durch die Erwartungen harmonisiert, die einander gegenüber gestellt werden. Luhmann unterscheidete zwei Typen von Erwartungen. Die normativen, das sind die Erwartungen, die auch im Falle einer Enttäuschung (Nichterfüllung der Erwartung) aufrechterhalten werden. Kognitive Erwartungen dagegen werden -- auf Grund der aus den Erwartungen hervorrührenden Enttäuschungen -- geändert. Recht gehört zum Kreis der normativen Erwartungen, das heißt, es ist eine Erwartung, die den Fakten gegenüber ("kontrafaktuell") stabilisiert wird. Kein Recht kann es garantieren, daß unsere rechtlichen Erwartungen niemals enttäuscht werden, aber Recht garantiert es, daß unsere Erwartungen trotz Enttäuschengen aufrechterhalten bleiben.

         Da Erwartungen so eine grundlegende Rolle spielen, bilden kognitive und normative Erwartungen den zentralen Objekt der gesellschaftstheoretischen Untersuchungen. Konkreter heißt das: das Recht, das Normativität aufzeigt, ist die Wissenschaft, die der Kognitivität (der aus den Täuschungen stammenden Lernfähigkeit) am klarsten Ausdruck verleiht. Selbstverständlich existiert Kognitivität außerhalb der Wissenschaft, und Normativität außerhalb des Rechtes, aber da die erwähnten Teilsysteme auf diese Erwartungen spezialisiert sind, kann man Kognitivität und Normativität hier in ihrer klarster Form beobachten. Jetzt ist es wohl klar, warum für Luhmann Wissenschaft und Recht so interessant sind.[6] Da ich meine Aufmerksamkeit vor allem auf rehtcliche Fragen richte, werde ich mich in diesem Zusammenhang auch nur auf die Problematik des Rechtes konzentrieren.

         Es ist also klar geworden, warum für die Gesellschaftstheorie die Frage des Rechtes so wichtig ist, es badarf jedoch weiterer Erklärung, in welchem Zusamenhang Recht in der luhmannschen Theorieperspektive erschien.

         Um diese Frage zu beantworten, müssen wir eine allgemeinere Problematik unter die Lupe nehmen: in Luhmanns theoretischer Überzeugung können Reflexionstheorien der verschiedenen Gesellschaftssysteme niemals getrennt, sondern nur im Kontext einer allgemeinen Gesellschaftstheorie dargelegt werden. Er hat Begriffe benutzt (Evolution, Selbstbeschreibung, strukturelle Beziehung, operationelle Geschlossenheit, Kodierung/Programmierung), die bei der Untersuchung jedes einzelnen Funktionssystems benutzbar sind. Das hat den Vorteil, daß Funktionssysteme, dank der gemeinsamen Begrifflichkeit, leichter zu vergleichen sind.

Dies bedeutet also, daß bei der Rechtsanalyse werden nicht nur rechtsbezogene Eigenschaften in den Vordergrund gestellt, sondern -- ganz im Gegenteil -- genau diejenige Charakteristika, die Recht als Subsystem der Gesellschaft beschreiben.[7] Darum können wir feststellen, daß Luhmanns Werke in erster Linie als gesellschaftstheoretische Analysen verstanden werden können, und erst im zweiten Gerade zu rechtstheoretischen und rechtssoziologischen Debatten beitragen. Das wird, nebenbei gemerkt, auch schon im Titel seines 1993 publizierten Buches ausgedruckt: "Das Recht der Gesellschaft".[8]

         Die "Rechtssoziologie" vom 1972, und "Das Recht der Gesellschaft" vom 1993, aber auch ein Großteil der inzwischen erschienen Publikationen zeigen, daß für Luhmann die Frage der Rechtsanalyse ununterbrochen auf dem Tagesordnung stand. Diese Kontinuität bedeutet jedoch nicht, daß er die gesellschaftliche Funktion des Rechtes immer in der selben Weise betrachtete. Der arglose Leser kann durchaus falsche Schlüsse ziehen, da Luhmann nahm bei der Erörterung konkreter Fragen des öfteren, und ohne irgendweche begrenzende Bemerkungen auf die "Rechtssozilogie" Bezug. Und das kann natürlich durchaus den Eindruck der Kontinuität erwecken. Das ist jeodch nicht der Fall. Ich muß zwischen den Konzepten der zwei erwähnten Bücher unbedingt eine klare Grenzlinie ziehen. "Rechtssoziologie" betrachtet Recht als wichtiger Verursacher der soziologischen Änderungen in der Gesellschaft, als Instrumentarium, womit geordnete gesellschaftliche Änderungen herbeigeführt werden können. Das andere Buch dagegen, das 1993 erschien, meint, Recht ist "das Immunsystem der Gesellschaft", das die Gesellschaft gegen Risiken der offenen Zukunft schützt. (Luhmann, 1993:565). Die Betonung wurde also von der Aktivität auf die Selbstverteidigung verschoben. Die Erklärung dafür ist, daß Luhmann immer skeptischer die Frage anging, ob man eine Gesellschaft bewußt ändern, bzw. planen kann.

         Nach dieser allgemeinen Beschreibung gesellschaftstheoretischer und luhmannscher Rechtsauffassung möchte ich zum Schluß zwei miteinander eng verbundenen konkreten Fragen erörtern. Diese Fragen sind: das Problem des Fundierens, Kod und Programm des Rechtes, die Positivität des Rechtes.

 

1) Über das Fundieren des Rechtes

         Erinnern wir uns: im Zusamenhang der Erwartungen erschien Recht in dieser, von uns untersuchten Theorie als normative Erwartung. In der Gesellschaft aber können sich Erwartungen auch auf andere Erwartungen beziehen. Das heißt -- in den Worten von Luhmann -- Sozialität bedeutet das Netzwerk von Erwartungen der Erwartungen. Und wenn es so ist, kann die Unterscheidung "normativ/kognitiv" auch auf diese Verdoppelung der Erwartungen beziehen. Im rechtlichen Zusammenhang bedeutet das soviel, daß den normativen Erwartungen des Rechtes gegenüber können sowohl normative, als auch kognitive Erwartungen gestellt werden.

         Die normativen Erwartungen des Rechtes stützen sich oft auf andere normativen Erwartungen, die als politische oder ethische Anforderungen, bzw. Werte erscheinen.[9] Denken wir dabei nur an den Rechtsschaffenden, der kaum Gesetze schaffen könnte, wenn es eine Ansammlung von normativen Erwartungen außerhalb des Rechtes nicht gäbe. Seine Situtation is mit der jenes Richters vergleichbar, der sich unter anderem auch auf jene vorhandenen gesellschaftlichen Wert- und Normenvorstellungen stützen muß, die nicht unbedingt die Gestalt des Rechtes annehmen.

         Und hier stoßen wir auf ein altes Problem der Rechtsphilosophie, und zwar: wie Recht außerhalb des Rechtes (Ethik, Naturrecht) fundiert wird. Wenn wir nämlich behaupten, daß die normativen Erwartungen des Rechtes sich auf gewisse normative Erwartungen stützen, die das bereich des Rechtes überschreiten, begeben wir uns in die Nähe des Standpunktes des naturrechtlichen Fundierens. Bei Luhmann ist das jedoch nicht der Fall. Sein Standpunkt war eindeutig, er meinte, daß modernes Recht sich auf sich selbst fundiert. Der Autopoiesis des Rechtes heißt, daß rechtliche Normen im Netz bereits vorhandener rechtlicher Normen zustande kommen. Die Verursacher der Normenänderungen sind zwar Fakten von "außerhalb", aber die Fakten selbst ändern keine rechtlichen Normen. Nur Recht kann das Recht verändern.

         Damit ist aber die Frage nicht verwechselbar, was der außenstehende Beobachter (z.B. ein Gesellschaftsforscher, der das Recht untersucht) des Rechtes sieht. Dieser Beobachter sieht auch das, was das Rechtssystem nicht sehen kann, also das, was im Rechtssystem latent bleibt, und kann feststellen, daß hinter den rechtlichen Normativitäten sich außerrechtliche Normen verbergen. Die Erwartungen dieser normativen Erwartungen (kurz: die Werte) liegen jedoch nicht selten ziemlich weit weg von der rechtlichen Formwelt, oder stehen gar dem Recht entgegen. Wie Luhman das ganz lapidar feststellte (1993:556): "Recht oder Unrecht -- Humanität zählt".

 

2) Kode und Programm

         In seiner gesellschaftstheoretischen Beschreibung hat Luhmann die Differenzierung der gesellschaftlichen Teilsysteme in den Vordergrund gestellt. Die verschiedenen Teilsysteme haben jeweils eine gesellschaftliche Funktion erfüllt, und haben sich dabei auf bestimmte Ereignisaufarbeitungsschemen stützten. Dieses Schema -- von Luhmann "Kode" genannt -- ist im Falle des Rechtes die Unterscheidung "Recht -- Unrecht".  Das Wort Kode drückt die Geschlossenheit des Systems, und dadurch die Zuverlässigkeit des Rechtsystems aus. Die Frage ist jedoch, auf welchem Grund es festgestellt wird, welche Handlungen "rechtsmäßig", und welche "unrechtsmäßig" sind.  Kurzgefaßt: was läßt die Kode des Rechtes funktionieren? Luhmanns Antwort: die Gesamtheit der aktuell gültigen Rechvorschriften. Diese Gesamtheit nennt er Programm. Die gültigen Rechtsvorschriften können sich ändern, und dadurch ändert sich auch der Inhalt des konkreten Gebrauchs von "Recht -- Unrecht", aber die Änderung betrifft den Kode nicht, da Recht immer diesen Kode benutzt.

         Was bringt das für einen Vorteil in der Analyse, wenn wir -- Luhmann folgend -- das Recht mit den Kategorien Kode und Programm begreifen? Einer der Vorteile ist es, daß wir Stabilität und Unveränderbarkeit (das wird vom Kode beschrieben), bzw. Offenheit und Lernfähigkeit (das wird von dem Programm beschrieben) des Rechtssystems gleichzeitig problematisieren können.

 

3) Die Positivität des Rechtes

         Luhmann hat schon 1970 eine längere Studie der Positivität des Rechtes gewidmet, in der er seinen Standpunkt wie folgt definiert: "Unter der Bezeichnung 'Positivität des Rechtes' soll das Problem erörtert werden, ob und wie eine Gesellschaft auf der Ebene ihrer Normen strukturelle Variablitität erreichen und sicherstellen kann. Dabei geht es nicht um die Frage, ob un in welchen Grenzen positives Recht durch 'höheres', überpositives Recht begründbar ist und dank solcher Begründung Rechtscharakter hat" (Luhmann, 1981:113).

         Die Positivität des Rechtes stammt aus dem Rechtsleben der modernen Gesellschaft. Das kann man nicht vereinfachen, und darauf reduzieren, daß das Bauwerk des Naturrechtes zerfallen ist. Eher geht es hier darum, daß die Funktion des Rechtes -- das hier als Erwartungsstruktur betrachtet wird -- sich geändert hat. Luhmann sagt, daß manche europäische politische Systeme Mitte des 19. Jahrhunderts den Umstand der Positivität erreichten. Erst dann kam es dazu, daß das Recht nicht mehr auf die Ordnung der Natur -- das heißt die Umgebung des Gesellschaftssystems -- fundiert wurde, sondern auf das Gesellschaftssystem selbst. Da Natur ihre traditionelle Rolle als normative Instanz verlor, Luhman hielt es nicht für adäquat, Naturrecht wiedererwecken zu versuchen. Andererseits sollte man unterstreichen, daß diese Auffassung -- anders als der klassische rechtspositivistische Standpunkt -- das Rechtssystem in enger Verknüpfung mit der Gesellschaft analysierte. Das Recht ist ein abgesondertes Subsystem in der Gesellschaft. Und in dieser Thesis wird nicht nur die Abgesondertheit, sondern auch die Existenz in der Gesellschaft betont (Horster, 1995:184-188).

         Die Thesis der Positivität des Rechtes bringt die Überzeugung zum Ausdruck, daß das Recht der modernen Gesellschaft lernfähig ist, und bereit zur jeglichen Änderung. Dieses Recht bedeutet aber keine Gefahr für die Stabilität, da alle rechtlichen Änderungen nur in einer vom Recht geordneten Weise vor sich gehen können. Die eventuelle Änderung des Rechtes macht die Zukunft riskant. Das Recht ist nicht die Welt der Unveränderlichkeit, aber wer sich auf das Recht stützt, der kann dem Widerstand und den Enttäuschungen gegenüber mit Untertstützung rechnen.

         In dieser Auffassung bezieht sich der Bergiff der Gerechtigkeit nicht auf Handlungen und Entscheidungen, sondern auf das System selbst, bzw. auf die Selektionen des Systems. Konkret erschien sie als adäquate Komplexität des Rechtssystems. "Adäquate Komplexität" ist kein Synonym für die "richtige" Komplexität, sie drückt bloß aus, daß das System nur in dem Maße komplex ist, in dem es konsistente Entscheidungen treffen kann; es bürgt also dafür, daß gleiche Fälle in der gleichen Weise, un ungleiche Fälle nicht in der gleichen Weise entschieden werden.[10] Gephard meint, daß das lumannsche Gerechtigkeitskonzept kann in die Form des "geschichtlich gültigen Naturrechts" umgewandelt werden. "Dieser Versuch, die Alternative von 'Naturrecht oder Rechtspositivismus' aufzulösen, indem der juristische Begriff der 'Positivität' soziologisch gefasst und 'Gerechtigkeit' aus dem Reich der letzten Werte in die Welt des Sozialen Lebens geholt wird" (Gephart, 1993:118-120).

 

 

Literatur

 

Balogh I. – Karácsony A. (2000): Német társadalomelméletek (Deutsche Gesellschaftstheorien). Budapest, Balassi

Evers, A. - Nowotny, H. (1987): Über den Umgang mit Unsicherheit. Frankfurt a. M., Suhrkamp Verlag

Gephart, W. (1993): Gesellchaftstheorie und Recht. Frankfurt a. M., Suhrkamp Verlag

Habermas, J. (1981): Theorie des Kommunikativen Handelns. 1-2. Frankfurt a. M., Suhrkamp Verlag

Habermas, J. (1992): Faktizität und Geltung. Frankfurt a. M., Suhrkamp Verlag

Horster, D. (1995): "Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm". Frankfurt a. M., Suhrkamp Verlag

Koselleck, R. (1979): Vergangene Zukunft. Frankfurt a. M., Suhrkamp Verlag

Luhmann, N. (1972/1983): Rechtssoziologie. Opladen, Westdeutscher Verlag

Luhmann, N. (1981) Ausdifferenzierung des Rechts. Frankfurt a. M., Suhrkamp Verlag

Luhmann, N. (1984): Soziale Systeme. Frankfurt a. M., Suhrkamp Verlag

Luhmann, N. (1993): Das Recht der Gesellschaft. Frankfurt a. M., Suhrkamp Verlag

Luhmann, N. (1995): Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M., Suhrkamp Verlag

Luhmann, N. (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M., Suhrkamp Verlag

Münch, R. (1976): Legitimität und politische Macht. Opladen, Westdeutscher Verlag

Parsons, T. (1962): The Law and Social Control. in: Evan, W. M. (ed.): Law and Sociology. Glencoe

Peters, B. (1991): Racionalität, Recht und Gesellschaft. Frankfurt a. M., Suhrkamp Verlag

Schäfers, B. (1996): Soziologie und Gesellschaftsentwicklung. Opladen, Leske+Budrich Verlag

Schelsky, H. (1980): Die Soziologen und das Recht. Opladen, Westdeutscher Verlag

Schülein, J. A. (1987): Theorie der Institution. Eine Entwicklungeschichte und konzeptionelle Analyse. Opladen, Westdeutsher Verlag

Seelmann, K. (1994): Rechtsphilosophie. München, Beck Verlag

Strauss, L. (1977): Naturrecht und Geschichte. Frankfurt a. M., Suhrkamp Verlag



[1] Mehrere Kapitel unserer gemeinsamen Arbeit mit István Balogh “Német társadalomelméletek“ (Deutsche Gesellschaftstheorien) behandeln diese Problematik. Da werden die deutschen gesellschaftstheoretischen Theorien in Detail analysiert. Über die gesellschaftspolitische Betrachtung des Rechtes hat Gephart (1993) und Peters (1991) die besten Studien publiziert.

[2] Im Denken über die Gesellschaft hat die Suche nach rechtliche Grundlagen jahrhundertelang eine naturrechtliche Anschauung mit sich gebracht. Der göttliche (theologische) Charakter dieser Anschauung wurde in der Neuzeit in das Verstandsrecht umgewandelt. Dies hielt zwar an dem Begriff von natürlichen Zustand fest, aber nicht als ein Geschehnis aus der Vergangeheit, sondern als eine Annahme des Verstandes. Sowohl das Umdefinieren von Naturrecht auf Verstandsrecht, als auch der Gedanke des gesellschaftlichen Vertrages statt Naturrechtes hat zum Ausruck gebracht, daß die Naturfundamente der Gesellschaft ins Schwanken geraten sind. (Luhmann, 1995:154-155). In der Umwandlung der Denkgeschichte, vor allem in dem deutschen Denken, war der nächte Schritt die Einführung des Geschichtsprinzips, und damit hat man die naturrechtliche Fundierung endgültig aufgegeben. Unter den gesellschafts- und politphilosophischen Denker unseres Jahrhunderts hat Strauss (1977) am wirkungsvollsten für die Wiederherstellung der naturrechtlichen Betrachtungsweise eingetreten. Strauss hatnicht nur auf jene theoretischen Versuche Kiritik ausgeübt, die Fakten und Werte auseinandertreiben wollten, aber auch die geschichtliche Anschauung, die in seiner Sicht Naturrecht unmöglich machte.

[3] All das ist nicht nur aus geschichtliche Aspekte interessant, sondern es tangiert auch unsere Gegenwart, wie wir das auch Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger in Ost-Europa beobachten konnten.Daß geplante gesellschaftliche Änderungen mit Hilfe des Rechtes in einer stabilisierten Weise realisiert werden können, darauf hat Schäfers (1996:188-189) -- in Zusammenhang mit den Umwandlungen in der ehemaligen DDR -- hingewiesen. Dort sind nämlich nach der Vereinigung eine rechtlich fundierte Transformation zu institutionelle Veränderungen geführt. Gerade aus diesem Grund hält Schäfers die Zeit reif für die Wiedererweckung der vergessenen Institutionstheorie Schelskys.

[4] Wie Durkheim die Verschiebung des Rechtes von den sakralen Grundlagen sah, das wird von Gephart gründlich analysiert, 1993:321-419.

[5] Luhmann hielt die Wirtschaft für äußerst wichtig. So meinte er z.B., daß man gegen die Rückkehr des Nationalsozialismus nicht das Naturrecht wiederherstellen braucht -- wie das in jenen Zeiten von den meisten politischen und rechtspolitischen Debatten zu hören war --, sondern statt dessen sollte man das gesellschaftliche Gewicht der Wirtschaftsfragen besser in den Vordergrund schieben.

[6] "Kein System kann über längere Zeit hinweg kognitive, bzw. normative Erwartungen handhaben, ohne daß Wissen, bzw. Recht anfällt." (Luhmann, 1984:451)

[7] Dasselbe ist charakteristisch für Luhmanns Kunst- Wirtschafts- und Wissenschaftsanalysen.

[8] Bei Gephard (1993:97), der den Zusammenhang von Gesellschaftstheorie und Recht in einer Monographie eingehend analysierte, lesen wir folgendes: “die Rechtssoziologie von Niklas Luhmann steht unter dem ausdrücklichen Anspruch, Recht aus der Perspektive von Gesellschaftstheorie soziologisch zu rekonstruieren“. Diese herausragende Rolle des Rechtes wurde von Münch (1976) in der gesellschaftstheoretischen Analyse in Zweifel gezogen, und hat als "Panjurismus" bezeichnet.

[9] "Das Recht stammt nicht aus der Feder des Gesetzgebers." (Luhmann, 1981:123)

[10] In diesem Zusammenhang hat Seelmann (1994:132-134) beachtenswerte Bemerkungen gemacht. In seiner Sicht ist die lumann'sche Gerechtigkeitsdeutung nicht anderes, als das, was man im rechtlichen Fachliteratur Rechtssicherheit nennt. Genauer gesagt: Luhmann hat den traditionelle einheitlichen Begriff der Rechtssicherheit in zwei Aspekte gespaltet: "Gerechtigkeit" und "Rechtssicherheit".


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